Dietrich Horstmann


Berufsbezug oder umfassende Handlungskompetenz?

Der Beitrag des Religionsunterrichts in den Bildungsgängen der Teilzeitberufsschule des Berufskollegs - ein Diskussionsbeitrag


In der Berufsbildungsdiskussion der letzten Jahre ist der „Berufsbezug“ ne-ben „Handlungsorientierung“ zu einem der zentralen Begriffe geworden.

Der folgende Beitrag kann keine umfassende Analyse bieten. Er reflektiert auf der Basis der eigenen

Realitätswahrnehmung als Berufsschulpfarrer in Duisburg die Situation. Dabei geht es zunächst um die Interessen, die dabei im Spiel sind. Sodann versuche ich im zweiten Abschnitt definitorische Abgrenzungen zum Begriff

„Berufsbezug“. Daran anschließend wird be-gründet, warum „umfassende Handlungskompetenz“ geeigneter scheint, die Didaktik des Berufskollegs zu begründen. Hier wird versucht, theologische Begründungszusammenhänge für einen handlungsorientierten Religionsun-terricht (RU) anzudeuten. Aus den Richtlinien NRW wird deren Hand-

lungsbegriff vorgestellt. Dies mündet in Konsequenzen für den RU am Be-rufskolleg.


  1. Die Interessenlage


    Die Auszubildenden

    Erwerbstätigkeit ist für die Lebensplanung der meisten Jugendlichen von zentraler Bedeutung. Aber ein lebenslang

    ausgeübter Beruf gehört angesichts der ökonomischen Veränderungen immer weniger zum Kern ihrer Identi-tät. Überhaupt Arbeit zu haben hat Vorrang vor einem „Beruf“. Schon diese Relativierung des Berufs verbietet eine didaktische Einengung des RU auf den Beruf. Das Leben der Auszubildenden umfasst nicht nur den Beruf. Selbstkompetenz, Perspektivengewinnung, Partnerschaft und Freizeit sind ihnen ebenso wichtig. Auszubildende

    würden deshalb „Berufsbezug“ im engeren Sinne als primäre didaktische Leitlinie für den RU ablehnen. Sie schätzen den Freiraum selbstbestimmten Lernens im RU im Kontrast zum verzweckten Lernen. Vor allem aber müssen sie sich ihre gesamte Lebens-welt angesichts der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten selbst zusammenfügen; denn festgefügte Muster gibt es immer weniger.


    Die Schule

    Die interessenpolitisch gesehen starke Stellung der Wirtschaft drängt die Bildungsaufgabe des Berufskollegs immer mehr an den Rand. Ein möglichst enger „Berufsbezug“ der Bildungsangebote scheint für die Schule ein Mittel zur Legitimation des Berufskollegs gegenüber dem dualen Partner zu sein. Andererseits wissen Schulleitungen und Lehrkräfte, dass sie den Interessen der Betriebe nicht zu sehr entgegenkommen dürfen. Durch zu einseitigen

    Berufsbezug würde der Lernort Schule überflüssig. Dennoch wächst die Bereitschaft, den umfassenderen Bildungsauftrag zurückzustellen, bei Schul-leitungen und -ministerien. Bei Lehrerinnen und Lehrern ist dagegen ein Festhalten an der wissenschaftlich fundierten Fachlichkeit festzustellen: Dies richtet sich gegen einen zu engen Berufsbezug, aber vor allem gegen eine puristische Handlungsorientierung im Sinne von Produktorientierung.


    Die Ausbildungsbetriebe

    Unter Rationalisierungs- und Kostendruck, verbunden mit kurzfristigem Gewinnstreben, ist für viele – aber nicht für alle – Betriebe die Reduzierung der Schulzeiten wichtig. Obwohl alle seriösen Kostenrechnungen – auch aus der Wirtschaft – belegen, dass Ausbildung sich langfristig rechnet, schlägt das Streben nach sofort zu realisierenden Erträgen immer mehr durch. Mit dem Argument „Berufsbezug“ im Sinne von sofort verwertbarer Arbeitsleis-tung

    wird eine Reduzierung und Verdichtung von Unterricht vor allem im berufsübergreifenden Bereich gefordert. Hier ist auch häufig von „Praxisbe-zug“ die Rede, so als ob Praxis ohne Reflexion als solche eine bildende Funktion habe.

    „Berufsbezug“ ist in diesem Kontext ein Kampfbegriff zur Sicherung ökonomischer Interessen vor allem beim traditionellen Hand-werk und im Einzelhandel, die unter hartem Wettbewerbsdruck stehen und deshalb jede Arbeitsstunde der Auszubildenden zu benötigen meinen. In der Tendenz handelt es sich also um das Interesse, die Arbeit zu entberuflichen und auf Jobs zu reduzieren.


    Die berufliche Bildung / Berufspädagogik

    Von Seiten der Wissenschaft im Berufsbildungsbereich, von den Spitzenor-ganisationen der Wirtschaftsverbände und von den Gewerkschaften wird mit dem Konzept der Handlungsorientierung eine Verknüpfung von beruf-lichen Handlungssituationen und schulischen Lernsituationen zum Erwerb von humanen, sozialen, fachlichen und methodischen Kompetenzen mit dem Ziel einer umfassenden Handlungskompetenz verfolgt. Dabei ist offen, an

    welchen Lernorten oder mit welchen Fächern diese Kompetenzen er-worben werden.

    Ob das Berufskolleg dafür langfristig notwendig ist, ist umstritten, ebenso, ob es weiterhin Fächer geben soll. Vor allem der inhaltliche Beitrag von Deutsch, Politik, Religion und Sport steht immer wieder zu Debatte. Die Eingriffe der Wirtschaft in die Inhalte dieser Fächer mit dem Hinweis auf angeblich fehlenden Berufsbezug nehmen zu.

    Die Politik

    Die Debatte um den Berufsbezug in der Politik ist von der neoliberalen Globalisierungsdrohung einerseits und den steigenden Zahlen von Jugendli-chen ohne Ausbildungsplatz bestimmt. Angesichts dieses Drucks geben die Parteien

    – in unterschiedlichem Ausmaß – immer mehr den Forderungen der Wirtschaft nach und kürzen den

    berufsübergreifenden Bereich zu Guns-ten der berufsbezogenen Fächer. Die Organisation des Unterrichts wird

    „berufsbezogen“ vorgenommen. Eine Sonderstellung nehmen die Grünen ein. Sie fordern eine fundierte Obligatorik im Berufskolleg in Abgrenzung von reinen Wirtschaftsinteressen, wollen aber den konfessionellen RU durch das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionen“ (LER) ersetzen. Die Vollzeit-Ausbildungs-Pogramme, die den Jugendlichen Angebote zur Aus-bildung und zum beruflichen Einstieg machen, sind weit gehend vom Er-

    werbssystem losgelöst. Sie zeigen die Dilemmata der Politik angesichts der Wandlungen im Beschäftigungssystem.


    Die evangelische Kirche und die Religionspädagogik

    Die evangelische Kirche bietet ein uneinheitliches Bild, weil sie weder bil-dungspolitisch noch didaktisch abgestimmte und einheitliche Konzepte hat. Der „Orientierungsrahmen“ ist eine nicht verbindliche Arbeit der religions-pädagogischen Institute und der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erzieher in Deutschland e. V. (AEED)

    und wirkt „überholt“ (1991). Auf der Basis der Denkschriften, vor allem des Sozialworts der Kirchen, müsste

    dringend ein Konsens gefunden werden, um den Stellenwert von Arbeit und Beruf und den der Religion am Berufskolleg zu begründen. Dabei ist erstaunlich, dass die jüngste Denkschrift „Handwerk als Chance“ (1997) den Berufsschulreli-gionsunterricht überhaupt nicht erwähnt und weithin unkritisch konserva-tive wirtschafts- und gesellschaftspolitische Vorstellungen der Handwerks-verbände übernimmt.

    Eine fundierte religionspädagogische Position muss den Beitrag des Religi-onsunterrichts zum Lebensraum „Beruf“ ebenso wie zu allen anderen Le-bensräumen der Auszubildenden deutlich machen. Der Grundkonsens mit der Berufspädagogik und den Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK) scheint insgesamt vorhanden:

    „Umfassende Handlungskompetenz“ entspricht auch den Anliegen der Religionspädagogik. Diesen Anspruch aber

    wird die Religionspädagogik nur im Verbund mit den anderen Fächer des berufsübergreifenden Bereichs leisten können.


  2. Definitorische Abgrenzungen


    Der Begriff „Berufsbezug“ ist nicht nur interessenpolitisch vielschichtig. Auch sachlogisch sind Abgrenzungen notwendig.

    Ich unterscheide einen weiteren von einem engeren Berufsbezug: einerseits also Bezüge zum Beruf an sich und andererseits Bezüge zum konkreten Ausbildungsberuf. Es ergeben sich dabei Überschneidungen, z. B. bei den biografischen und den individuellen Bezügen.

    Die jeweils angeschlossenen Problemfragen versuchen in erster Linie, mögli-che Fragerichtungen der

    Auszubildenden oder Fragen, die ihre Interessen im Blick haben, aufzunehmen. Sie machen deutlich, dass der RU von den Sub-jekten her denkt und damit die persönliche und soziale Handlungskompe-tenz im Kontext des Berufs im Blick hat und sich nicht primär an Prinzipien oder Bildungsgehalten, an beruflichen Handlungsfeldern oder an durch Ausbildungsordnungen festgelegten schulischen Bildungsgängen orientiert.


    1. Bezüge zum Beruf an sich


      Bei diesem weiteren Berufsbezug wird die Bedeutung des Berufs in einem größeren Kontext gesehen: Biografie, Gesellschaft, Wirtschaft und globale Situation.


      Bezug zum Leben des Einzelnen (biografischer Bezug)

      Hier geht es darum, welchen Stellenwert „Beruf“ überhaupt für die Lebens-planung haben kann.

      Inwieweit soll ich überhaupt einen Beruf erlernen, wenn ich in meinem gewünschten Beruf sowieso keinen

      Ausbildungsplatz erhalte? Wozu muss ich überhaupt arbeiten? Es gibt angesichts der Knappheit von Erwerbsarbeit eine Fülle von Alternativen zum Beruf: aussteigen – kriminell werden – jobben – Lottogewinn – Versorgung durch die Sippe – Schwarzarbeit – Ehrenamt. Warum soll ich mich für eine ohnehin ungewisse Zukunft quä-len? „Spaß haben ist angesagt“. Brauche ich für die Lebensplanung, etwa zur Familiengründung, einen Beruf? „Jobben reicht“.

      Was leistet der Beruf für das persönliche Wachstum? Welchen persönlichen Sinn bietet er? Wie kann ich einen Beruf und meine Grundüberzeugungen, meinen Glauben und eigene Ideale, miteinander vereinbaren? Was bedeutet es für meine Lebens-planung, wenn Phasen beruflicher Tätigkeit und Phasen von Arbeitslosig-keit oder unbezahlter Familienarbeit einander ablösen?


      Bezug der Gesellschaft zum Beruf (sozialer Bezug)

      Hier geht es darum, welchen Stellenwert „Beruf“ für den Staat und die Ge-sellschaft hat – und umgekehrt: wie gesellschaftliche Veränderungen auf den Beruf zurückwirken.

      Wie wird angesichts des „Endes der Erwerbsarbeitsgesellschaft“ die Zukunft aussehen? Inwieweit ist die Verteilung

      von Reichtum noch an Arbeit und Leistung im Beruf gebunden? Wie sieht eine gesellschaftsverträgliche Vertei-lung von Arbeit, Arbeitszeit und Freizeit aus? Wie ist der Zugang zum Be-ruf für Männer und Frauen? Wie wird mit Arbeitslosen umgegangen? In-wieweit soll es eine für alle geltende arbeitsfreie Zeit geben (Feiertag, Sonn-tag)? Wie werden unterschiedliche Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verhandelt? Inwieweit ist berufliche

      Bildung staatliche Auf-gabe? Wie soll die Altersversorgung geregelt werden? Soll sie weiterhin überwiegend aus

      Erwerbsarbeit erwirtschaftet werden?


      Bezug der Wirtschaft zum Beruf (ökonomischer Bezug)

      Hier geht es um volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Bezüge des Berufs.

      Welchen ökonomischen Nutzen hat – geregelte – Berufstätigkeit für die Gesellschaft? Inwieweit ist berufliche Bildung Aufgabe der Wirtschaft? Wel-che Rahmenbedingungen für den Beruf sind für den wirtschaftlichen Erfolg notwendig? Welches Entlohnungssystem ist ökonomisch und gesellschaft-lich sinnvoll? Wie viele Steuern sollen von wem für die Berufsausbildung aufgebracht werden? Darf alles produziert werden, was möglich ist (Pro-duktethik)?


      Weltweite Bedeutung von Beruf (globaler Bezug)

      Hier geht es um die aus der globalen Situation sich ergebenden Bezüge des Berufs. Welche Bedeutung haben Berufe und deren Leistungen angesichts der „Globalisierung“? Wie sind die Probleme Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Kinderarbeit, Benachteiligung der Frauen und die aus ihr folgenden welt-weiten Probleme wie z. B. Migration zu lösen? Welche religiösen und kultu-rellen Traditionen wirken auf den Beruf und das Berufssystem ein? Welchen

      Beitrag leisten die Berufe zu Frieden, Gerechtigkeit, Schöpfung und Partizi-pation?


    2. Bezug zum konkreten Ausbildungsberuf


      Hier geht es um den jeweiligen Ausbildungsberuf der Auszubildenden und die betriebliche Realität. In diesem Sinne wird „Berufsbezug“ zumeist ge-braucht. Es handelt sich dabei um eine Engführung.


      Bezug der Auszubildenden zum konkreten Beruf (individueller Bezug)

      Hier geht es um den Berufsbezug der Auszubildenden im engeren Sinne in ihrer Ausbildungssituation, also um die

      „Innenseite“ des Erlebens im Beruf.

      Welchen Bezug zu meinem konkreten Ausbildungsberuf habe ich? Ist es ein Wunschberuf oder ein Notberuf? Welche persönlichen Erfahrungen mache ich in meinem Ausbildungsberuf? Was trägt meine Ausbildung zu meinem Selbstwertgefühl, z. B. durch das verdiente Geld, und zur Bewährung mei-ner Fähigkeiten bei? Wie gehe ich mit Versagen um? Wie wehre ich mich gegen Mobbing? Wie kann ich durch meinen Beruf meine Fachkompetenz und

      meine soziale Kompetenz erweitern? Wie kann ich in meinem Ausbil-dungsverhältnis „Chef/Chefin“ meines Lebens bleiben oder werden?


      Bezug zu den konkreten Berufsanforderungen (funktionaler Bezug), Arbeitsplatzbezug/Ausbildungsbezug

      Hier geht es um den Bezug zum konkreten Arbeitsplatz und zu dessen An-forderungen in der Ausbildung.

      Inwieweit trägt meine Arbeit zur Verbesserung des Betriebsergebnisses bei? Wem nütze ich? Erhalte ich dafür angemessene Vergütung? Ist mein Ar-beitsplatz nur rein funktional oder nimmt er auf menschliche Bedürfnisse Rücksicht? Wieweit muss ich meine Persönlichkeit aufgeben? Sind die Ar-beitsbedingungen sozial? Welche Konflikte

      erlebe ich am Arbeitsplatz? Wie sind die Beziehungen am Arbeitsplatz? Habe ich Mitbestimmungsmöglich-keiten? Welchen Platz in der Hierarchie des Betriebs nehme ich ein? In wel-che moralischen Dilemmata führt mich die Ausbildung? Kann ich etwas von meinen Idealen verwirklichen? Was kann ich allein oder mit anderen zu-sammen tun, um meine Situation zu gestalten?


  3. Umfassende Handlungskompetenz in beruflichen und außerberuf-lichen Situationen als Schlüssel für die berufliche Bildung und für den Religionsunterricht


    Zumeist wird „Berufsbezug“ im engeren Sinne als rein funktionaler Bezug zu einem Arbeitsplatz/Ausbildungsplatz definiert. Zusammen mit dem Begriff im weiteren Sinne könnte „Berufsbezug“ durchaus als ein Schlüssel der Berufspädagogik dienen.

    Der so umrissene Berufsbezug im umfassenden Sinne blendet aber die ande-ren Lebenswelten der Auszubildenden aus: Selbstfindung, Partnerschaft, Familie, Wohnen, Freizeit, Konsum...

    Diese weiteren Lebenswelten sind aber aus der Sicht der Auszubildenden, einer ganzheitlichen theologischen Anthropologie sowie der modernen Berufsbildung mindestens ebenso wichtig. Deshalb scheint es angebrachter zu sein, als Generalschlüssel für die Berufliche Bildung den Begriff der „um-fassenden Handlungskompetenz in beruflichen und außerberuflichen Situa-tionen“ zu benutzen. Dabei ist mit „Situation“ nicht nur das singuläre Erle- ben gemeint, sondern die jeweilige Lebenswelt und die Erfahrungen, die dort gemacht werden.

  4. Theologische Begründungen für die „umfassende Handlungskom-petenz“


    Mit Blick auf den „Berufsbezug“ scheinen mir theologisch folgende Begrün-dungszusammenhänge wichtig:

  5. Richtlinien für das Berufskolleg – Evangelische Religionslehre 1995


    Als ein ausgeführtes Beispiel für umfassende Handlungskompetenz stehen die Richtlinien NRW 1995. 1998 wurden sie zur Erprobung freigegeben unter der Bedingung der Klärung der Frage, „ob der Berufsbezug hinrei-chend deutlich dargestellt ist.“1)

    „Diese Richtlinien nehmen die Überlegungen zur Entwicklung von Hand-lungskompetenz in der beruflichen Bildung auf. Unter Handlungskompe-tenz wird die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen verstanden, in beruf- lichen und außerberuflichen Situationen problemorientiert, sachgerecht und verantwortlich zu handeln. Dies wird in Qualifikationen beschrieben.

    Unter Handlungskompetenz wird im Religionsunterricht die Bereitschaft und Fähigkeit verstanden, in (Lebens-

    )Situationen (also beruflichen und außerberuflichen! D. H.) authentisch, angemessen, kritisch, solidarisch und zukunftsoffen zu handeln.

    Handeln ist hier weit gefasst als inneres und äußeres christliches „Tun“. Dabei wird für den Religionsunterricht zwischen den Handlungsdimensio-nen Fühlen, Kennen, Urteilen, Mitbestimmen und Hoffen unterschieden. Lebenssituationen sind im Religionsunterricht unter religiöser Perspektive zu sehen. In diesen Richtlinien wurde

    dafür die eschatologische Perspektive der Verheißung gewählt. Sie soll die Bestimmtheit des Lebens von Gott, der in

    Lebenssituationen auf uns zukommt, ausdrücken.“2)

    Entgegen dem üblichen Sprachgebrauch werden hier bewusst die sonst rein funktional zu verstehenden

    „Qualifikationen“ auch für umfassendere per-sönliche „Kompetenzen“ verwendet. Eine genaue Aufteilung von bloß be-ruflich verwertbaren Fähigkeiten (Ausbildung) und darüber hinaus reichen-den persönlichen und sozialen Befähigungen (Bildung) ist unmöglich. Inso-fern setzen sie einen umfassenden Begriff von Berufsbezug voraus. Sie gehen aber über diese berufliche Perspektive hinaus, weil die beruflichen Situatio-nen ein zu begrenztes Lernfeld

    darstellen, um weiter reichende Handlungs-kompetenz zu erlangen.

    Die Richtlinien sind also umfassend auf die gesamte Lebenswirklichkeit bezogen und verbieten eine Engführung auf

    „Berufsbezug“. Besonders wich-tig ist dabei die Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler bei der Konstruk-tion von Unterrichtsvorhaben: Mit ihnen zusammen sind Situation, Quali-fikation und Themen im Diskurs zu vermitteln; denn sie sollen selbstständig ihre Unterrichtsvorhaben aushandeln, weil es darum geht, dass sie sich selbstständig in ihren Lebenswelten behaupten und Verantwortung über-nehmen.


  6. Mögliche thematische Aspekte zum Thema Arbeit und Beruf im Religionsunterricht


    Der Religionsunterricht hat schon immer Fragen des Berufs bearbeitet. Dabei hat er folgende thematische Aspekte aufgenommen3):

    Im thematisch-problemorientierten Ansatz ist die Aufnahme von Problemen aus der Berufssphäre selbstverständlich. Lebendiges Lernen im Religi-onsunterricht am Berufskolleg hat aber alle Aspekte des Lebens im Blick und nicht nur den Beruf.


  7. Konsequenzen für den Religionsunterricht am Berufskolleg


Es geht also dem RU um umfassende Handlungskompetenz in beruflichen und außerberuflichen Situationen. Dabei ist es durchaus wünschenswert, möglichst viele Kompetenzen an den beruflichen Handlungsfeldern zu ori-entieren und auf den Beruf bezogene Lernfelder zu finden. Konkrete Ar-beits-, Ausbildungs- und Berufssituationen haben

also Priorität auch für den RU. Das bedeutet: Das Fach Religion wird sich nicht mehr isoliert legiti-mieren und durchführen lassen. Es stellt sich noch mehr auf fächerübergrei-fendes Lernen ein.

Wegen der Spezialisierung der Berufe und ihrer unterschiedlichen Nähe zur gesamten Realität des Lebens werden

das Ausmaß und das Gewicht der beruflichen Situationen allerdings sehr unterschiedliche Berücksichtigung finden. Im sozialpädagogischen Bereich werden ganzheitliche Situationen eher anzutreffen sein als in Ausbildungsgängen für die industrielle Produk-tion. Ein ausschließlicher oder oft krampfhaft gesuchter Berufsbezug verbie-tet sich also.

Der Religionsunterricht kann sich darin aber nicht erschöpfen. Wie andere Fächer im beruflichen Schulwesen

bearbeitet der RU wegen seiner ganzheit-lichen Orientierung auch Situationen in anderen Lebenswelten der jungen Generation (z. B. Selbst- und Sinnfindung, Partnerschaft, Freizeit und Kon-sum, Gesundheit und Klärung religiöser Einstellungen und Haltungen ...). Diese haben zwar indirekt auch einen Bezug zum Beruf, weil sie die Stabili-tät und Leistungsfähigkeit der Person wesentlich mitbestimmen, aber sie gehen darin nicht auf. Deshalb müssen in unterschiedlichem Umfang Lern-situationen hinzugenommen werden, die weder einen weiteren noch einen engeren Berufsbezug haben.

Vor allem aber muss gewahrt bleiben, dass die jungen Erwachsenen einen Lernraum behalten, in dem sie frei über Methoden, Inhalte und Ziele des Unterrichts (mit-)entscheiden können. Die Abmeldemöglichkeit schützt diesen Lernraum zur freien Konstruktion von alternativen Möglichkeiten, Probehandeln und Kreativität, offenem Austausch, Aneignung aktuellen Wissens jenseits von Vorgaben, Fantasie für Gegenwelten und selbst gewähl-ten

Projekten. Zweckfreies „Transzendieren“ im wörtlichen Sinne ist ein wesentliches Proprium des RU, das junge Erwachsene brauchen und gerne annehmen.


Anmerkungen:

  1. So der vorletzte Satz im Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung von 1998 – 02-06, I C 6.36-

    10/2-50/97 –, der die Richtli-nien für drei Jahre in Kraft setzt.

  2. 2.1 in: Richtlinien zur Erprobung für die Bildungsgänge der Berufskol-legs in NRW, Evangelische Religionslehre, Düsseldorf 1998, S. 15

  3. vgl. auch Dietrich Horstmann, Meine Ausbildung und mein Beruf. Kompetenzen erwerben mit lebendigem

Lernen (TZI), in: Handbuch Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, Gütersloh 1997, S. 357 ff


Dieser Artikel wurde erstmals abgedruckt in der Broschüre: Evangelische Kirche im Rheinland, Abteilung Erziehung und Bildung, „Berufsbezug im Religionsunterricht“, Düsseldorf 1999, S. 9–18


Weitere Aufsätze zum Thema Berufsbezug und praktische Beispiele in


Werner Läwen, Hans-Jürgen Pabst, Andrea A. Pabst-Dietrich (Hrsg.) Berufsbezug im Religionsunterricht der Berufsbildenden Schule


Quellen und Forschungen zum evangelischen sozialen Handeln – im Auftrag der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft – herausgegeben von Martin Cordes und Rolf Hüper


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